Iriomote: Ein Platz zum Leben, ein Platz zum Sterben, Teil 1

Foto: Yuuri Ootakumi
Blick auf die Wildnis der südjapanischen Insel Iriomote. Foto: Yuuri Ootakumi

Nirgendwo in Japan findet man abgeschiedenere Orte als auf der Insel Iriomote, am südlichsten Zipfel des ostasiatischen Inselreichs. Die Wildnis lockt jedoch nicht nur Touristen an, sondern ist auch ein beliebter Ort für Aussteiger.

Gastbeitrag von Yuuri Ootakumi, Betreiber des Gästehauses Ai no Yado.

Geschichten vom Ende her zu erzählen scheint vielleicht auf den ersten Blick widersinnig. Aber bis vor kurzem, als es noch keine massenproduzierte Bücher und keine elektronische Kommunikation gab, war es ganz natürlich, dass wir beim Besuch eines unbekannten Ortes in der Gegenwart landeten und erst durch den Umgang mit den Menschen nach und nach die Geschichten hören konnten, die sich zu einem Bild der Vergangenheit zusammenfügen lassen und solchem Ort eine tiefere Bedeutung geben. In diesem Sinn will ich auch hier mit dem Heute anfangen – und ich hoffe, dass wir dann gemeinsam in einige der vielen Geschichten – und damit ein wenig in die Geschichte – eintauchen können, die diese Insel uns erzählen kann.

Vor gut 20 Jahren war Masami Nagasaki noch ein bekannter Fotograf (viele seiner Fotos kann man heute noch im Web finden). Aber eines Tages setzte er sich ab und verließ seine Frau, seine Kinder und seinen Beruf. In seiner Heimat galt er als verschollen, bis ihn jemand als den Mann erkannte, der einmal im Monat mit dem Boot von der kleinen Insel Sotobanari ins Dörfchen Sonai herüberkommt, um am Postamt 10000 Yen (etwa 100 Euro) in Empfang zu nehmen und dann im Laden nebenan Reiskekse, Zigaretten und Schnaps einzukaufen.

Ein Platz zum Sterben

Inzwischen ist Nagasaki 77 Jahre alt, und er lebt immer noch auf der kleinen Insel, allein und – bis auf den Tag, an dem er das Postamt besucht – unbekleidet (weswegen er auch als der „nackte Opa“ bekannt ist). Er ist sich seines Schicksals wohl bewusst – wie bewusst, das haben wir vor zwei Jahren erfahren, als ihn ein internationales Fernsehteam besuchte und nach diesem und jenem befragte. Da hat er gesagt: „Das Wichtigste für die Menschen ist, ihren Platz zum Sterben zu finden. Ich habe meinen Platz gefunden: hier, wo ich ganz von Natur umgeben bin, will ich sterben.“ Das wird Masami Nagasaki wahrscheinlich auch ungestört tun können. Und bis es soweit ist, wird er dort erst einmal weiterhin ungestört leben können, denn obwohl es verschiedenen Behörden Kopfschmerzen bereitet, wenn sich jemand aus dem „normalen“ Leben ausklinkt, ist das Verschollengehen als solches in Japan nicht strafbar und auch das Leben ohne Bekleidung an einem menschenleeren Ort nicht.

Von Sonai fährt man kaum drei Kilometer nach Süden, und die Straße ist zu Ende. Weitere drei Kilometer mit dem Boot, und man erreicht Funauki. Dort wohnen zwar noch Leute, aber es ist abzusehen, dass dies nicht mehr lange der Fall sein wird: in der Schule sind nur noch vier Kinder, weniger als die für ihren Unterricht zuständigen Lehrkräfte. Noch ein paar Kilometer weiter gab es früher auch mal ein Dorf, Amitori. Von Funauki aus könnte man eigentlich auf dem Landweg dort hinkommen (die Entfernung ist vielleicht nicht viel mehr als 5 Kilometer) – es gibt aber keinen Landweg, zumindest nicht in der Form, die wir heutzutage gewohnt sind: wer sich durchs Gebüsch schlagen und mehrfach ein paar Hundert Meter rauf und runterklettern kann, wird auch zu Fuß dort hinkommen.

Blick über Funauki hinaus auf die Amitori-Bucht. Dahinter lebte "Tarzan". Foto: Paipateroma / Wikimedia
Blick über die Dörfer Shirahama und Funauki bis zur Amitori-Bucht. Dahinter lebte „Tarzan“ (siehe schwarze Markierung). Foto: Paipateroma / Wikimedia

Wer dorthin will, fährt also üblicherweise mit dem Boot, was voraussetzt, dass man sich mit einem örtlichen Bootbesitzer verabredet. Auf dem Weg nach Amitori ist eine lange Halbinsel zu umfahren, was die Boote zwingt, sich um einiges ins Meer hinauszuwagen, darum sind solche Fahrten nur bei einigermaßen gutem Wetter möglich. Den also etwas schwer zu ereichenden Ort Amitori hatte sich wohl genau aus diesem Grund vor etwa 30 Jahren Kehyuu Sunagawa als den Ort ausgesucht, wo er nach seiner Pensionierung seinen Lebensabend verbringen wollte. Er hatte kein Postamt in Reichweite und brauchte das auch nicht: er ernährte sich ganz von Jagd und Fischfang. In der Nähe seiner Hütte hatte er außerdem eine größere Anzahl von Bananenbäumen angepflanzt – die Bananen auf den Inseln hier sind kurz und stummelig und haben ein einzigartiges Honigaroma, weshalb sie bei Inselbewohnern wie bei Touristen sehr beliebt sind. Kehyuu Sunagawa bekam hin und wieder Besuch von Freunden aus Funauki, die ihm gern, im Tausch gegen Erjagtes oder Bananen, die Dinge mitbrachten, die er selbst nicht herstellen konnte (wozu auch Schnaps gehörte). Alle nannten ihn „Tarzan“, und auch seine Geschichte ging irgendwann einmal durch die Medien.

Manga über japanischen „Tarzan“

„Tarzan“ starb etwa zu der Zeit als der „nackte Opa“ sich seine Insel aussuchte, aber ob die Beiden sich kennengelernt haben, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war in den Jahren von 1990 bis 1993 ein Kunstlehrer aus Kansai, Kohei Mizuta, mehrfach bei „Tarzan“ zu Besuch gewesen, und die beiden hatten allerlei philosophische Gespräche geführt. Kohei Misuta schrieb und zeichnete schließlich ein Manga über „Tarzans“ Leben (inzwischen ist diese Geschichte auch als reguläres Buch zu erhalten), und obwohl er selbst inzwischen auch schon 72 Jahre alt ist, unternimmt er jedes Jahr eine Reise nach Amitori, wo er ein paar Wochen allein an genau dem Ort verbringt, den Keiyuu Sunagawa sich als Platz zum Leben und Sterben ausgesucht hatte. Ob er wohl eines Tages einfach dort bleiben wird? Es würde mich nicht wundern…

Vor 40 Jahren, nachdem die USA Okinawa an Japan zurückgegeben hatten, begann eine Phase intensiver Modernisierung auf allen Inseln hier. Straßen und Hafenanlagen wurden ausgebaut, und jedes Dorf bekam seine Schule und sein Gemeindehaus mit Mehrzweckhalle für Veranstaltungen jeder Art. Strom und Telefon erreichten nach und nach jeden Ort entlang der Straßen, und vor zwei oder drei Jahren wurde auch die letzte Insel in Yaeyama an eine zentrale Wasserversorgung angeschlossen (ja, man verlegt Kabel und Wasserleitungen zwischen den Inseln durchs Meer). Man könnte denken, dass in diesem Zeitalter von  Motoren, Telefonen und Satelliten selbst auf abgelegenen Inseln das Leben einfach geworden ist – es ist in mancher  Hinsicht einfacher geworden, aber die Einflüsse von Meer und Wind (dabei sind nicht nur die im Sommer durchziehenden Taifune gemeint) sind am Ende durch nichts wegzudiskutieren.

(Fortsetzung)

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