Ukraine: Auf Besuch in der sowjetischen Atomraketenbasis

Zwei Schlüssel, zwei Codes, zwei Knöpfe und einen Feuerbefehl aus Moskau hätte es gebraucht, um in Westeuropa riesige Flächen in Schutt und Asche zu legen. In der ukrainischen Pampa können Touristen bei einer einzigartigen Führung durch eine ehemalige sowjetische Atomraketenbasis den Kalten Krieg nacherleben.

Ausser einer unscheinbaren Werbetafel an der Abzweigung und der blauen Linie auf dem GPS deutet nichts darauf hin, dass wir hier richtig sind. Der Kies knirscht mit jedem Schritt unter den Füssen, während uns die Augustsonne mit voller Kraft auf den Nacken brennt. Um uns ist nichts als endloses Farmland und ein paar einsame Bäume am Wegrand.

Die Einöde ist kein Zufall. Wir befinden uns auf dem Feldweg, der zu einem ehemaligen sowjetischen Militärstützpunkt führt. In dieser Ebene rund 300 Kilometer südlich von Kiew, mitten in der vielleicht gottverlassensten Gegend der Ukraine, versteckte sich einst eine Basis der sowjetischen Atomstreitkräfte. Von hier zielten Atomraketen auf mehrere Städte in Westeuropa.

Die Sowjetführung hatte die Region nicht ohne Grund gewählt: Wo kaum jemand wohnt, ist es leichter, die Anlage vor neugierigen Blicken abzuschirmen. Trotzdem dürfte der eine oder andere Anwohner geahnt haben, dass das, was von bis zu 3000 Volt starken Hochspannungszäunen umgeben war, niemals die vorgebliche Wetterstation sein konnte. Die militärische Logik sprach noch aus einem anderen Grund für den Ort: Der zu erwartenden Vergeltungsschlag hätte hier weniger Opfer gefordert.

 

Vom Hochsicherheitsgebiet zur Sehenswürdigkeit

Dass heute Touristen die Atomraketenbasis besuchen können, ist eine seltsame Fügung. Als die Sowjetunion vor rund 30 Jahren zerfiel, war etwa ein Drittel ihres nuklearen Arsenals in der Ukraine stationiert. Sechs Basen mit insgesamt neunzig funktionsfähigen Startsilos befanden sich in verschiedenen Teilen des Landes. Damit war das junge Land auf einen Schlag die drittgrösste Atommacht der Welt – noch vor China.

Lange blieb unklar, wie mit den Waffen verfahren werden sollte. Russland verlangte sie zurück, die Ukraine wollte sie behalten. Mehrere Jahre wurde hin und her verhandelt, bis sich 1994 Kiew, Moskau und Washington auf ein Abrüstungsabkommen einigten, das die Vernichtung der 176 Atomraketen vorsah. Dennoch sollte es bis 2001 dauern, bis die letzte aus den Schächten gehoben wurde. Die Silos wurden gesprengt und die mit dem hochgiftigen Raketentreibstoff verseuchten Böden saniert.

Im Verlaufe dieses Prozess kam die Idee auf, eine Kommandozentrale als Mahnmal für künftige Generationen zu erhalten. Seit bald 20 Jahren empfängt nun das Museum der Strategischen Raketenstreitkräfte Touristen aus aller Welt. Es besteht aus einem neu errichteten Infozentrum sowie dem vormals militärischen Bereich, der zweifellos einer der ungewöhnlichsten „Attraktionen“ ist, die ich bisher besucht habe.

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Rekonstruktion eines Startzentrums im Museum. Anschliessend besuchen wir die echte Atomraketenbasis.
Rekonstruktion eines Startzentrums im Museum. Anschliessend besuchen wir das Original.

 

Die Kunst der Tarnung

Den unterirdischen Bereich der Atomraketenbasis darf man nur in einer kleinen Gruppe im Rahmen einer geführten Tour betreten. Einige der Guides, die durch die Bunker führen, kennen sie noch aus ihrem aktiven Wehrdienst. Sie können von eigenen Erfahrungen berichten, was den Besuch besonders spannend macht. Leider stösst man hier als westeuropäischer Besucher schnell an die Sprachgrenze. Wir haben uns deswegen für eine Führerin entschieden, die ausgesprochen gutes Englisch sprach. Sie hiess Olga, wenn ich mich richtig erinnere.

Die Tour beginnt vor einem unscheinbaren Häuschen mit einer schweren Stahltüre. Olga öffnet sie mit einer einladenden Bewegung und gibt den Blick auf eine Treppe frei, die in die Tiefe führt. Wir folgen einige Meter unter der Erdoberfläche einem Tunnel, an dem links und rechts Leitungskanäle angebracht sind. Nach einigen Verzweigungen und einer Gehdistanz von 155 Metern erreichen wir eine Schleuse mit zwei dicken Stahlbeton-Türen. „Hier kam nur rein, wer den Geheimcode kannte“, erzählt Olga.

Was wir auf der anderen Seite sehen, fühlt sich an wie ein Agentenfilm aus den 1960er-Jahren: Wir befinden uns an der oberen Kante eines gewaltigen Hohlraums. Vor unseren Füssen geht es 40 Meter in die Tiefe. Mitten drin etwas, das wie ein senkrecht aufgestelltes U-Boot aussieht. Was wir nicht sehen können: Das 125 Tonnen schwere Gebilde ist an gewaltigen Federn aufgehängt, damit die Soldaten drin selbst einen direkten Atomangriff hätten überleben können.

Die Stahlkonstruktion ist intern in zwölf Etagen unterteilt. Ganz unten befindet sich ein Schlafraum, darüber das Kontrollzentrum. Die restlichen Stockwerke nehmen die Technik auf: Dieselgeneratoren, um die Energieversorgung zu gewährleisten, Kommunikationsanlagen sowie ein Raum für die Belüftung. Auch gibt es Platz für Essen und Getränke. „Um die Motivation zu wahren, hatten die Soldaten hier unten besonders leckere Reserven“, erzählt Olga. Bis zu 40 Tage hätten die Soldaten abgeschnitten von der Umwelt überleben können.

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3D-Modell des Kommandozentrums der sowjetischen Atomraketenbasis.
3D-Modell des Kommandozentrums der sowjetischen Atomraketenbasis.

 

Der Drill für die Weltzerstörung

Mit einem Fahrstuhl fahren wir in die Tiefe und steigen über eine schmale Tür in das Kontrollzentrum ein, ins Herz der Zerstörungsmaschine. Die Wände sind voll mit Schalttafeln, Bildschirmen und Knöpfen. „Jeden Tag gab es mehrere Drills“, erzählt Olga. Immer und immer wieder sei trainiert worden. Hätte die Führung in Moskau tatsächlich den Abschussbefehl gegeben, wäre im Bunker Alarm ausgelöst worden. Daraufhin hätten der befehlshabende Offizier und sein Stellvertreter gleichzeitig mit einem Schlüssel den Startvorgang in die Wege leiten müssen.

Im nächsten Schritt mussten zwei Zahlen-Codes eingegeben werden. Einer davon war in einem versiegelten Umschlag auf der Basis deponiert, der andere wäre über eine Telefonleitung auf einen der Monitore übertragen worden. Nun wären die Offiziere zum Abschuss berechtigt. Dabei mussten sie jeweils mit der einen Hand den Schlüssel gedreht halten und mit der anderen den Startknopf drücken. Zur Sicherheit waren die Tasten so weit voneinander entfernt, dass eine Person nicht beide Startknöpfe gleichzeitig hätte erreichen können.

In dem beengenden Raum war noch ein dritter Sitz angebracht. Er war für den Leiter der Basis gedacht. Mit der Pistole im Halfter wäre er dort gesessen, erzählt Olga, die inzwischen auf dem Chef-Sessel Platz genommen hat. Hätten sich die beiden Soldaten geweigert, den Startknopf zu drücken, wären sie er auf der Stelle erschossen worden.

Nun sollen auch wir es versuchen. Olga löst einen Alarm aus und fordert uns auf, die Schlüssel zu drehen und selber auf den berühmten „roten Knopf“ zu drücken, der in Wahrheit einen unaufgeregten Grauton hat. Für viele Besucher ist es das Highlight, die Taste zu drücken, mit der ganze Grossstädte unbewohnbar gemacht werden konnten. Wir brachten es nicht übers Herz, das zu tun.

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Ich kann mich nicht überwinden, den Startknopf durchzudrücken.
Ich kann mich nicht überwinden, den Startknopf durchzudrücken.

 

Grösser als gedacht

Über einen anderen Ausgang erreichen wir wieder die Erdoberfläche, ganz in der Nähe des einzigen noch bestehenden Abschuss-Silos. Auffällig ist die schwere Klappe, die das Loch verdeckt. Sie diente dazu, die Raketen von Angriffen zu schützen. „Rund um die Anlage gab es zudem mehrere Geigerzähler“, führt Olga aus. Es war so eingerichtet, dass eine aussergewöhnlich hohe Messung den Startvorgang automatisch auslöste. Bei einem Fehlalarm hätte ihn das Kontrollzentrum aber jederzeit abbrechen können.

Rund um das Silo stehen zahlreiche Kriegsgeräte: Neben Panzer und Hubschraubern auch ein Schwertransporter, mit dem die Raketen transportiert wurden, sowieso Eisenbahnwaggons, die dem gleichen Zweck dienten. Das „Highlight“ der Ausstellung, wenn man so will, ist jedoch eine R-36. Die ballistische Interkontinentalrakete mit einer Reichweite von über 10.000 Kilometern gehörte zu den stärksten Waffen, die je gebaut wurden. Da sie mit bis zu zehn Atomköpfen bestückt werden konnte, war sie in der Lage, eine Fläche von der Grösse Bayerns mit einem einzigen Angriff zu verwüsten.

Als Pazifist, der sich nie etwas aus Waffen machte, habe ich mir nie überlegt, wie Atomraketen eigentlich aussehen. Als wir am 32 Meter langen und über 180 Tonnen schweren Geschoss entlang spazieren, bin ich trotzdem überrascht, wie gross das Teil ist. Wir sind am Ende unserer Tour angelangt – und so spannend alles auch war, ich bin nach zwei oder drei Stunden Kalten Kriegs mehr als froh, wieder auf zivilem Boden zu stehen und an der Hauptstrasse auf eine Mitfahrgelegenheit zur nächsten Stadt zu warten.

Die R-36 war in der Lage, ein Gebiet der Grösse Bayerns zu vernichten.
Die R-36 war in der Lage, ein Gebiet der Grösse Bayerns zu vernichten.

 

Praktische Tipps:

Anreise

Da die Raketensilos in ein kaum besiedeltes Gebiet gebaut wurden, ist die Anreise mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Wer nicht mit dem eigenen Fahrzeug unterwegs ist, hat im Prinzip die Wahl zwischen zwei schlechten Möglichkeiten: Einer geführten Tour und einer Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Einfacher ist natürlich die geführte Tour, die sich wohl in allen Reisebüros des Landes buchen lässt. Sie hat jedoch drei Nachteile: Alle Touren, die ich gesehen habe, beginnen und enden in Kiew und lassen sich deswegen schwer in eine Rundreise einbauen. Hinzu kommt, dass es in der unterirdischen Anlage kaum Platz gibt für mehr als drei Personen, so dass grössere Gruppen lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Und nicht zuletzt sind die Touren übermässig teuer.

Da wir sowieso schon in der Nähe waren, entschlossen wir uns, mit dem Bus anzureisen. Ab Uman fahren regelmässig Busse nach Perwomaisk. Auf Google Maps haben wir die Route verfolgt und dem Fahrer gesagt, wo er uns rauslassen soll. Die zwei Kilometer von der Hauptstrasse zum Museum sind wir zu Fuss gegangen. Der Rückweg erwies sich als schwieriger: Da wir kurz vor Betriebsschluss dort waren, boten die Angestellten an, uns bis nach Perwomaisk mitzunehmen. Dort befindet sich die nächste Busstation. Da wir auf diese Weise aber fast zwei Stunden verloren hätten, wollten wir es per Anhalter an der Hauptstrasse versuchen. Am Ende hielt nur der Linienbus an, den wir vermutlich sowieso genommen hätten.

Der Zugang zur unterirdischen Atomraketenbasis könnte unauffälliger kaum sein.
Der Zugang zur unterirdischen Bunkeranlage könnte unauffälliger kaum sein.

 

Die Tour durch das Museum

Das Gelände hat zwei Bereiche. Da ist zum einen ein Museum, das einem auf zahlreichen Schautafeln den Schrecken des Kalten Kriegs näher bringt. Einige wenige Erklärungen sind auch auf Englisch. Zudem gibt es hier eine zweite Kommandozentrale zu sehen. Deutlich interessanter ist aber die echte Zentrale, die man nur im Rahmen einer geführten Tour besuchen kann.

In meinem Reiseführer hiess es, im Museum stünden keine englischsprachigen Guides zur Verfügung. Vielleicht hatten wir einfach nur sehr viel Glück, aber bei unserem Besuch war eine Führerin vor Ort, die uns gerne die Anlage zeigte – und das übrigens auch hervorragend tat. Falls jemand andere Erfahrungen gemacht hat: Schreibt bitte einen Kommentar.

Die Zeiten der militärischen Geheimniskrämerei sind vorbei. Fotos sind überall erlaubt. Allerdings muss man für Bilder in der Zentrale ein Permit kaufen. In Anbetracht der schwierigen Lichtverhältnisse würde ich das nicht uneingeschränkt empfehlen. Die Reise fand im Sommer 2018 statt.

Sowjetischer Hubschrauber im Museum der Strategischen Raketenstreitkräfte

Fazit zur sowjetischen Atomraketenbasis

Welche Wendungen die Geschichte nimmt, ist immer wieder faszinierend zu sehen. Vor dreissig Jahren stand hier die vermutlich am schwersten zugängliche „Wetterstation“ der Welt, heute ist die Atomraketenbasis ein unscheinbares Regionalmuseum in der Pampa, das viele Ukraine-Besucher schlicht übersehen.

Ich fand es schwer zu fassen, dass es hier nicht viel mehr brauchte als das Bedienen von zwei unauffälligen Tasten, um weite Teile Westeuropas in Schutt und Asche zu legen und hundert Tausende Zivilisten in den Tod zu schicken.

Das war auch der Grund, wieso ich zunächst zögerte, das Museum der Strategischen Raketenstreitkräfte zu besuchen. Ich war mir nicht sicher, ob nicht die sowjetische Vergangenheit verklärt werden würde oder die Raketensilos in einen befremdlichen Spasspark verwandelt worden sind, der die Tragik des Orts verspottet hätte.

Bei meinem Besuch konnte ich rasch feststellen, dass meine Sorge unbegründet war. Die Ausstellung und die Führung waren ausgesprochen informativ und durchwegs sehr kritisch mit der eigenen Vergangenheit. Auf diese Weise ist das Raketensilo nicht nur ein militärhistorisch interessantes Gebäude, sondern auch ein Mahnmal für die atomare Abrüstung.

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5 Kommentare

    1. Hi Julia,
      danke fürs Lob. :) Ja, den Ort verpassen die meisten. Einseits weil er erstaunlicherweise ziemlich unbekannt ist, anderseits aber auch, weil er wirklich sehr mühsam zu erreichen ist. Bei uns stand er auch lange auf der Kippe, aber letztlich hat die Neugierde gesiegt. Und ich finde, es hat sich schon sehr gelohnt.
      Gruss,
      Oliver

  1. Ein spannender Einblick! Das mit den zwei Knöpfen habe ich schon irgendwo gehört/gesehen, vielleicht in einem Film…? Beide so weit voneinander getrennt, dass man ein Besenstiel bräuchte, hätte man ausrasten und alleine beide drücken wollen…
    Ich kann mir vorstellen, dass so eine Führung zum Teil bedrückend sein muss. Höher, schneller, weiter bedeutet hier, wie weit kann so eine Rakete fliegen und wie groß ist die Fläche, die platt gemacht werden kann. Glücklicherweise sind diese Zeiten (vorerst) vorbei!

    Liebe Grüße
    Kasia

    1. Ein Besenstil hätte vermutlich nicht gereicht: Jede Person jeweils muss einen Schlüssel drehen und einen Knopf drücken und das alles muss innerhalb einer Sekunde geschehen. Das heisst, man hätte sowieso vier Hände gebraucht. Aber da ohne Abschuss-Code aus Moskau eh nix gelaufen wäre, hätte es dem Ausrastenden auch nichts gebracht, wenn er tatsächlich alle vier Auslöser rechtzeitig hätte bedienen können.

      Ja, die Führung hinterliess mich mit gemischten Gefühlen. Es war bedrückend, aber gleichzeitig auch sehr interessant. Ich habe den Besuch jedenfalls nicht bereut.

      Gruss,
      Oli

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