„In Georgien kann der Besucher vieles selber entdecken“
Stephan Wackwitz (62) ist Leiter des Goethe-Instituts in Tbilisi und veröffentlichte vor kurzem einen viel gelobten Reise-Essay über den Südkaukasus. Im Interview des Monats spricht er über das Wesen Georgiens und über die touristischen Chancen eines bei uns kaum bekannten Reiselands.
WRF: Herr Wackwitz, zunächst etwas Geographie. Wo liegt eigentlich Georgien? Gehört das Land noch zu Europa oder schon zu Asien? Man liest ja beides…
Stephan Wackwitz: Ich würde die Bestimmung über die Kultur vornehmen – und da denke ich, dass man klar sagen kann, dass Georgien ein Teil Europas ist. Es lässt sich beispielsweise nachweisen, dass Georgien bereits in der Antike eines jener Reiche war, die zum Rand des römischen Reiches und des hellenistischen Mittelmeers gehörten. Im Mittelalter sorgte vor allem das Christentum für eine enge Verbindung mit den europäischen Königshäusern wie etwa den Staufern. Seit Ende des Ersten Weltkriegs besteht auch eine enge Beziehung mit Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern. Daher würde ich sagen: Georgien liegt zwar am Rande Europas, aber noch innerhalb seiner Grenzen.
Trotz dieser Randposition bezeichnen Sie Georgien und den Südkaukasus in Ihrem jüngsten Buch als „die vergessene Mitte der Welt“. Wieso?
Man darf hier Mitte nicht als Mittelpunkt eines Weltreiches verstehen wie das etwa bei Rom, Konstantinopel oder Peking der Fall war und ist. Es geht vielmehr um eine funktionale Mitte, um einen Angelpunkt der Welt. Georgien nahm schon immer eine wichtige strategische Position zwischen den grossen Machtblöcken ein, die jeweils das Bedürfnis hatten, den Südkaukasus zu kontrollieren. Zuletzt liessen sich 2008 solche Machtkämpfe zwischen den USA und Russland beobachten, als letzteres nach Südossetien einmarschierte. Dieses Spannungsfeld hat die Region seit Jahrhunderten geprägt, weil dadurch die unterschiedlichsten Einflüsse auf das Land einwirkten und letztlich die Kultur auch bereicherten.
Besonders sichtbar ist der Einfluss der Sowjetzeit. Wie wirkt sich diese nach über 20 Jahren der Unabhängigkeit auf das Leben der Menschen aus?
Sie spielen auf die Architektur ab, in der man die Sowjetzeit noch deutlich sieht. Ich habe den Eindruck, dass das Sowjeterbe auch im Verhalten der Menschen zu erkennen ist. Es ist vielen Bürgern dieses Landes noch immer neu, dass sie selber für ihr Schicksal verantwortlich sind. Sie erwarten oft Lösungen von aussen. Das sieht man auch in den unrealistischen Vorstellungen gegenüber dem kürzlich unterzeichneten EU-Assoziierungsabkommen und dem möglichen EU-Beitritt. Man muss aber gleichzeitig auch sagen, dass die Partizipation der Menschen insgesamt zunimmt. Vor kurzem gab es in Tiflis Auseinandersetzungen, weil ein grosses Hotel einen Teil des Vake-Parks in Tiflis zerstören wollte. Im Park befindet sich derzeit ein kleines Zeltdorf der Protestierenden. Ähnliche Bewegungen gibt es auch, die sich für den Umweltschutz einsetzen oder gegen den Abriss von historischer Bausubstanz wehren.
Wobei die Bausubstanz wohl häufig in einem so schlechten Zustand ist, dass man sie nicht mehr retten kann.
Das kann ich nicht beurteilen. Es stimmt schon: Viele Häuser sind wirklich in einem desolaten Zustand und gleichen bewohnten Ruinen. Aber ich denke, dass man viel machen kann, auch wenn das natürlich teurer kommt, als ein Gebäude einfach abzureissen und in einem ähnlichen Stil neu aufzubauen.
Sie ziehen in Ihrem Buch einen Vergleich zwischen dem heutigen Georgien und dem Italien der 60er-Jahre. Wo sehen Sie diese Parallelen?
Zum Beispiel in der Anwesenheit der erwähnten Ruinen. In meiner Kindheit waren die Kriegsruinen in Europa noch sehr sichtbar. Auch hier in Georgien haben wir viele Vernachlässigungsruinen. Das zweite ist diese seltsame Mischung aus Hypermoderne, die wir in den Prestigebauten der Saagaschwili-Zeit wie etwa der Friedensbrücke und der Tifliser Stadtverwaltung finden, und den mittelalterlich anmutenden Einrichtungen und Verhaltensweisen, die sich beispielsweise im Zusammenhang mit der Kirche oder den vormodernen Grossfamilien zeigen, die auf engstem Raum zusammenleben. Ich weiss nicht, ob das im Italien der 60er-Jahre wirklich so war, aber die Atmosphäre die Federico Fellini zum Beispiel in seinem Film „8½“ nachzeichnet, ist sehr ähnlich.
Wir befinden uns derzeit in den Räumlichkeiten des Goethe-Instituts. Welchen Stellenwert hat die deutsche Sprache und Kultur in Georgien?
Der deutsche Einfluss ist traditionell gross. Das liegt daran, dass die deutsche Romantik, die stark geprägt ist durch Figuren wie Herder, bei fast allen jungen Nationen sehr präsent ist. Es ist aber auch so, dass die Deutschen die ersten waren, die Georgien in ihrer Staatlichkeit anerkannt haben. Sowohl zu Zeiten des deutschen Reiches, als sich Georgien vom Zarenreich loslöste, wie auch 1993 nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Die Georgier sind generell sehr deutschfreundlich. Sehr deutlich sah man das übrigens vor einigen Wochen bei der Fussballweltmeisterschaft, als viele Georgier für Deutschland jubelten. Es gibt zudem nicht wenige die Deutsch lernen, um in Deutschland studieren zu können. Deutschland ist für Georgien ein wichtiger Partner.
Kommen wir auf das Reisen zu sprechen. Was macht Georgien für Reisende attraktiv?
In einem Zeitalter, in dem fast alles hundert Mal fotografiert wurde und man das meiste aus Filmen kennt, ist Georgien eines der wenigen Länder, wo man noch wirklich selber etwas entdecken kann. Das Spannende ist ja, dass uns das Land gleichzeitig so fremd, aber auch so nah ist. Georgien hat eine grossartige Natur zu bieten: Vom Hochgebirge bis zu subtropischen Badestränden ist alles vertreten. Es gibt Wüsten, Steppen, Urwälder. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten zum Wandern. Das andere ist die bedeutende Architektur, die stark mittelalterlich geprägt ist. Es gibt hier viel ältere Bauwerke als in Mitteleuropa. Auch die sehr freundlichen und vertrauenswürdigen Menschen sind zu nennen. Das Essen ist fantastisch und der Wein hervorragend. Ich glaube, derart viele Gründe, irgendwo hinzureisen, gibt es selten auf so kleinem Raum.
Und doch: Georgien ist bei westlichen Besuchern kaum auf dem Radar!
Reisende sind eben konservativ. Das kennen wir aus anderen Weltgegenden: Auch im Falle der Nachfolgestaaten Jugoslawiens brauchte es eine Weile, bis sich herumsprach, dass sie tolle Reiseziele sind. Georgien war eine lange Zeit für viele nur Teil der Sowjetunion und überhaupt nicht auf dem Schirm. Es hängt aber auch mit den wenigen Informationen zusammen, die Reisende erhalten. Es gibt kaum Reisebücher über das Land und die wenigen Reiseführer sind ausserhalb von Tiflis häufig recht unzuverlässig. Erst kürzlich habe ich durch einen persönlichen Tipp etwa 50 Kilometer von Tiflis eine Landschaft entdeckt, in der es riesige und sehr eindrückliche prähistorische Steinkreise gibt, die nirgends erwähnt werden. Es ist ja überhaupt so, dass es hier in Georgien und Armenien so viele Megalith-Kulturdenkmäler gibt wie sonst nur in der Bretagne – nur hat noch nie jemand davon gehört.
Wie sehen Sie die touristische Zukunft des Landes?
Ich denke, es gibt ein grosses Potential. Sowohl die vorherige wie auch die jetzige Regierung bemühen sich stark um die Förderung der touristischen Infrastruktur. Es wurden viele Hotels gegründet. Inzwischen hat man in Tiflis sogar den Eindruck, dass es Überkapazitäten gibt. Auf dem Land ist das noch nicht so. Sobald das internationale Reisepublikum das Land entdeckt hat, ist die Zukunft gross.
Was ist ihr ganz persönlicher Lieblingsort?
(Denkt nach) Vielleicht Wani. Das ist eine antike Kleinstadt zwischen Kudaisi und Batumi, heute ein kleines, ziemlich runtergekommenes Dorf. Doch auf dem Berg findet man eine richtige Akropolis und im Museum sind die vielen Goldschätze der antiken Stadt ausgestellt. Man weiss, dass die Mauern und Tempel nur ein Bruchteil dessen ist, was noch immer unter diesem vollkommen unbedeutend aussehenden georgischen Allerweltsdorf schlummert. Dieser Gegensatz zwischen dem, was zu sehen ist und dem, was sich wahrscheinlich noch unter dem Boden befindet, ist beeindruckend.
Stephan Wackwitz leitet das Goethe-Institut in Tbilisi, Georgien. Ausserdem betätigt sich der Deutsche als Autor. Vor wenigen Monaten erschien sein neues Werk „Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan„.
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