„Auch Abenteurer sollten an die Altersvorsorge denken“

Ein Leben für die Freiheit: Jürgen Stollin mit seinem Buch in Teneriffa.
Ein Leben für die Freiheit: Jürgen Stollin mit seinem Buch in Teneriffa.

Jürgen Stollin (71) blickt auf ein bewegtes Leben zurück: Er überstand in jungen Jahren ein tragisches Schiffsunglück, sass in Griechenland mehrere Jahre unschuldig im Gefängnis und brachte als Reiseveranstalter Hippies auf abenteuerliche Weise nach Indien – und wieder zurück. Im Gespräch erzählt er, was er heute anders machen würde.

Ich bin manchmal unsicher, ob ich in meinem Leben alles richtig mache. Um in meinen (relativ) jungen Jahren fast 50 Länder zu besuchen und die Gelegenheit zu haben, einige Jahre im Ausland zu leben, dafür habe ich viele Opfer gebracht. Beruflich bin ich bei weitem nicht dort, wo ich heute sein könnte, wenn ich die Schweiz nie verlassen hätte. Deswegen interessiert mich brennend, was aus anderen Menschen geworden ist, die ebenfalls viel für ihre Freiheit und den Wunsch nach Abenteuern geopfert haben.

Einer von ihnen ist der inzwischen 71 Jahre alte Rentner Jürgen Stollin, der heute auf der Ferieninsel Teneriffa lebt. Auf ihn und seine Geschichte bin ich zufällig gestossen, weil ich sein Buch „Mein Traum frei zu sein“ (4,85 Euro als Ebook) entdeckte. Darin schildert der Deutsche auf über 600 Seiten sein sieben Jahrzehnte dauerndes Reiseleben – und das ist, ohne übertreiben zu wollen, voll mit starkem Tubak. In jungen Jahren erlebt der Schiffskoch, wie sein Kreuzfahrtschiff, die Lakonia, auf dem Weg nach Madeida ausbrannte. Von den über 1000 Passagieren kamen 131 Menschen ums Leben. Stollin, der als Teil der Besatzung mit der Evakuierung betraut war, konnte sich letztlich nur retten, weil er im Wasser einer treibenden Leiche die Schwimmweste abnahm.

Mit dieser gruseligen Geschichte beginnt Stollin, dem Leser einen Einblick in sein bewegtes Leben zu geben. Natürlich sind nicht alle Erinnerungen so dramatisch.  In einem Kapitel schildert Stollin, wie er sich in New York von einer Prostituierten kurz vor einem wichtigen Geschäftsreise Geld und Pass abnehmen liess. In einer anderen Geschichte resümiert er, wie er mit einem alten Reisebus Hippies nach Nepal fuhr oder von dort abholte. Das dauerte so lange gut, bis sich eines Tages ein drogensüchtiger Passagier in einem Wutanfall entschloss, auf der Rückreise den ganzen Bus zu zertrümmerte.

Nichts für Erbsenzähler

Ich habe am Anfang ein paar Kapitel übersprungen und nur diejenigen Geschichten gelesen, die mich auf Anbieb ansprachen. Trotzdem kam ich auf diese Weise etwa auf die Hälfte des Buches. Insgesamt fand ich den Text sehr interessant und auch gut geschrieben. Allerdings heisst es im Vorwort, dass seine Biographie nichts für Erbsenzähler sei. Das kann ich  bestätigen. Insbesondere deswegen, weil Stollin mit sich selber schonungslos ehrlich ist. Bei der Lektüre kamen immer wieder Züge zum Vorschein, mit denen ich persönlich etwas Mühe hatte.

Hippie-Bus: Mit diesem Gefährt brachte Stollin seine Reisegäste nach Indien und Nepal. Foto: Jürgen Stollin
Hippie-Bus: Mit diesem Gefährt brachte Stollin seine Reisegäste nach Indien und Nepal. Foto: Jürgen Stollin

Erbsenzähler dürften allerdings auch keine Freude an der Aufmachung des Ebooks haben. Da Stollin das Buch selber herausgibt, fehlt eine einwandfreie Redaktion des Textes. Anders ausgedrückt: Das Buch hat hier und da einen Tippfehler und auch gelegentlich eine verquerrte Grammatik. Das ist schade und stellenweise auch etwas ärgerlich, aber meiner Meinung nach befindet sich die Fehlerquote in einem Bereich, die noch nicht vom Text ablenkt. Die wirklich spannende Lebensgeschichte macht die formalen Fehler längstens wieder wett.

Nach der Lektüre habe ich Stollin eine Email mit einer Reihe von Fragen geschickt, mit der Bitte die für mein Interview des Monats Januar zu beantworten. Als ich dann nach etwas mehr als einer Woche die Antworten bekam, war ich überrascht, dass sich der Autor eines über 600 Seiten dicken Buchs so kurz fasste. Hier also die Antworten:

Das Interview

Weltreiseforum: Jürgen, was hast du vor einem Monat am 22. Dezember gemacht, dem 50. Jahrestag des Untergangs des Kreuzfahrtschiffs Lakonia.

Jürgen Stollin: Ich habe sehr viel im Internet nach „Neuigkeiten“ von noch Lebenden oder deren Angehörigen gesucht. Desweiteren gab es in Gibraltar einen Erinnerungsgottesdienst. In der Enklave sind nämlich die meisten Verstorbenen, die ja hauptsächlich Briten waren, bestattet worden. Auch waren meine Gedanken bei den Kollegen, welche das Unglück nicht überlebten.

Du hast das Unglück in deiner Autobiographie an den Anfang gestellt. Welche Bedeutung hat diese Schiffskatastrophe heute noch für dich?

Sie hat mein Leben schon ein wenig verändert. Da ich durch meine Rettung sozusagen „Wiedergeboren“ wurde, lebte ich seither intensiver.

Mit dem Hippiebus nach Indien.
Mit dem Hippiebus nach Indien.

In den 1960ern-Jahren hast du mit deinem Bus Hippies nach Nepal gefahren. Zu deinen Reisegästen und ihren Tripps scheinst du eine recht distanzierte Haltung zu haben.

Ja, das ist so. Da ich viele solche Leute in meinem Hippiebus von Amsterdam nach Kathmandu fuhr, konnte ich diese Flower-Power-Phase aus grösster Nähe miterleben. Schnell merkte ich, dass die meisten auf einem Egotripp waren. Viele lebten nach dem Motto: Alles wird geteilt! Doch was meines ist, das geht niemanden etwas an! So kann man doch kein „brother“ sein.

Was hat sich deiner Meinung nach seither am Tourismus verändert?

Das Reisen wurde sehr viel kommerzieller. Heute kann man mit dem Rucksack und 5 Dollar am Tag nicht mehr zu unentdeckten Gebieten in unentdeckten Ländern aufbrechen. Es gibt diese ganz einfach nicht mehr. Es gibt keine günstigen Abenteuer mehr, so wie wir sie früher erlebt haben. Heute muss man für alles Geld auf den Tisch legen. Als Althippie finde ich das sehr schade. Besonders schlimm finde ich den All-Inklusive-Tourismus. Das ist nur noch Abzocke. Ein anderes Thema ist die Politik. Hier hat sich die Situation so verändert, dass es unmöglich geworden ist, gewisse Länder zu besuchen.

Deine Memoiren wimmeln von Katastrophen und unglaublichen Geschichten. Was war dein schlimmstes Ereignis? Worauf bist du besonders stolz?

Mein schlimmstes Ereignis war wohl, dass ich knapp drei Jahre unschuldig in einem griechischen Gefängnis verbracht habe. Dadurch kam ich auf die schiefe Bahn, was meine Zukunft negativ beeinflussten. Besonders Stolz bin ich auf die vielen Ereignisse, bei denen ich Menschen in Not helfen konnte.

Im Vorwort schreibst du, dass du in jungen Jahren Schwierigkeiten hattest, dich der Verantwortung zu stellen. Ist Reisen immer eine Flucht?

Meine Reisen waren alle im Ansatz eine Flucht. Ich suchte wohl eine Antwort auf mein „Versagen“, mich dem normalen Lebensrhythmus zu unterwerfen. Doch im Normalfall ist Reisen keine Flucht. Reisen ist ein Erlebnis und das Reisen bildet ungemein. Quasi auf der Strasse habe ich fünf Sprachen (Englisch, Griechisch, Türkisch, Arabisch und Hindi) so gut gelernt, dass ich ohne Schwierigkeiten in diesen Länder mit „Einheimischen“ stundenlange Gespräche führen kann. Und das ist nur das offensichtlichste Beispiel.

Du hast dir bei all deinen Abenteuer nie über das Altern Gedanken gemacht. Welchen Rat würdest du jungen Abenteuern mitgeben?

Junge Abenteurer sollten sich den Rat zu Herzen nehmen, den mir mein Vater immer und immer wieder gegeben hat: Denke an deine alten Tage. Das wollte ich früher nie hören. Heute bereue ich, dass ich immer antwortete: „Bei meinem Lebenswandel werde ich sowieso nie so alt“ Eine Versicherung und eine Altersvorsorge sollte jeder Abenteurer im Reisegepäck haben. Ansonsten ist das Risiko, als Penner auf der Straße zu enden, oder anderen zur Last zu fallen, einfach zu gross.

Gibt es noch Dinge, die du gerne erlebt hättest, aber für die du den richtigen Zeitpunkt verpasst hast?

Ja, es gibt sehr viele Dinge, welche ich nicht machen konnte. Zum Beispiel habe ich nie die Südsee bereist. Vielleicht weil es dorthin keine Busverbindung gibt. Und jetzt, in meinem Alter, würde ich gerne noch einmal mit dem Bus von Amsterdam über Goa, nach Kathmandu und sehen, was sich seither verändert hat.

Hat dir das Interview gefallen? Dann schau dir sein Ebook an. Wenn du auf der Suche nach weiteren Interviews bist, solltest du dir unser Stichwort Interview des Monats anschauen. Weitere Buchtipps gibt es unter der gleichnamigen Rubrik. Und vergiss nicht, den monatlichen Newsletter zu abonnieren.

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3 Kommentare

  1. Einen Herzlichen Dank an Oliver Zwahlen für diesen Interessanten Beitrag.
    Hier kann ich aus eigener Erfahrung, nur noch einmal Bestätigen, dass eine Reise Versicherung UND natürlich eine Vorsorge Versicherung für die „Alten Tage“ sehr wichtig sind.
    Grüße vom HIPPIEGURU

  2. Der auf Teneriffa lebende Jürgen Stollin ist ein Bekannter von mir, mit gleichem hang zum Abenteuer, Reise Leben. Diese Reisenden werden von der Gesellschaft gerne in verschiedenen Gruppen eingestuft. Zigeuner, Aussteiger, Abenteurer oder aber durch gewisse Umstände in allen Gruppen eingestuft werden könnten.

    Zu den Bericht über Jürgen Stollin, „ Auch Abenteurer sollten an die Altersvorsorge denken.“ Denke ich anders. In Jungen Jahren will man was erleben, dafür reicht das Geld nicht immer, weil auch ein Teil in die Altersvorsorge fließt, um im Alter mit dem Bus sich durch die Gegend schaukeln zu lassen.
    Zahlt man nicht die Beiträge, sondern benutzt das Geld in den jungen Jahren und fährt selbst abenteuerlich durch die Welt. Da stellt sich die Frage: „Was ist richtig“, als freier Mensch sein Leben so zu gestallten wie es einem Gefällt oder sich auch noch im Rentenalter den Ansagen des Busfahrer zu folgen, sehen sie hier, sehen sie da, Trallala.

    Mein Buch, „ Machen… und nicht labern“ Als Pfadfinder wurde das Fernweh, als Fallschirmspringer und Privatpilot das Abenteuer geweckt. 28 Jahre rund um den Globus das Leben geliebt, auch mal die Sünde geküsst.
    Flieger Horst

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