Seit über 20 Jahren reist der Journalist und Fotograf Oliver Lück (46) mit einem alten Bulli kreuz und quer durch Europa und sammelt Geschichten aus dem Leben der Einheimischen. Vor kurzem erschien sein Bildband „Zeit als Ziel“. Im Interview erzählt er, wieso ihn der Alltag der Menschen fasziniert und wieso ihm Europa ausreicht.
WRF: Oliver, manche Reisende sammeln Länder, du Geschichten. Woher kommt diese Lust, den Alltag der Menschen zu dokumentieren?
Oliver Lück: Als Sportjournalist hatte ich früher regelmässig mit Prominenten zu tun. Zum Beispiel mehrmals mit Lionel Messi. Mit der Zeit merkte ich, dass diese Menschen oft nur wenig zu erzählen hatten und ich die interessanteren Geschichten aus ihrem Umfeld bekam. So begann ich mich stärker für das Leben der einfachen Menschen zu interessieren – für das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, wenn man so will. Das färbt natürlich auch auf meine Reisen ab: Nicht Sehenswürdigkeiten oder Landschaften machen das Reisen aus, sondern die Begegnungen mit den Menschen.
Was ist denn die ungewöhnlichste Geschichte, die dir begegnet ist?
Es fällt mir schwer, eine einzelne herauszupicken. Alle Geschichten, die ich in den Büchern erzähle, haben mich sehr bewegt. Aber wenn ich eine wählen müsste, dann wäre es die von Biruta Kerve. Ich hatte gerade die Grenze von Litauen nach Lettland überquert und bog auf der Suche nach einem Schlafplatz auf eine Schotterpiste ein. Dort stiess ich auf einen Garten, der phantasievoll mit Strandgut geschmückt war. Als ich mit der älteren Dame ins Gespräch kam, zeigte sie mir 40 Flaschenpostbriefe, die sie in den Jahren ebenfalls aus dem Meer gefischt hatte. Ich begann daraufhin die Absender zu kontaktieren und hörte mir ihre Geschichten an, woraus dann mein nächstes Buch entstand.
Nicht allen fällt es leicht, mit Fremden in Kontakt zu kommen. Wie gehst du vor?
Ich lasse mir auf meinem Reisen viel Zeit. Wenn mir ein Ort gefällt, bleibe ich gleich mehrere Tage. Da ergeben sich die Kontakte von alleine. Man kommt ins Gespräch, lernt sich kennen. Hinzu kommt, dass ich ein zurückhaltender Mensch bin, und das ist wohl meine Stärke. Denn je mehr man sich selber zurücknimmt, desto mehr öffnen sich die anderen. Als Autor habe ich allerdings einen Vorteil: Wenn ich erzähle, dass ich Bücher schreibe, bekomme ich oft Tipps über ungewöhnliche Persönlichkeiten in der Region, die wiederum spannende Geschichten zu erzählen haben. Aber dennoch: Es kostet mich auch nach der langen Zeit noch viel Überwindung, bei einem Fremden an der Tür zu klopfen.
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Wo sind die Menschen am aufgeschlossensten?
Ich würde sagen: Am Mittagstisch. Das klingt vielleicht überraschend. Aber wenn man gemeinsam isst, nimmt man am inneren Alltag anderer Menschen teil. Dadurch entsteht eine intime Atmosphäre, die Vertrauen schafft. Geographisch sind mir keine Unterschiede aufgefallen.
Seit 20 Jahren bist du mit dem Bulli in Europa unterwegs. Wird der Alte Kontinent nicht irgendwann zu eng? Fürchtest du nicht, etwas zu verpassen?
Nein, im Gegenteil. Europa reicht doch für vier Leben. Der Kontinent ist unglaublich gross und viel vielfältiger, als man allgemein annimmt. Je mehr ich von Europa kennenlerne, desto spannender wird er. Dabei habe ich in den 23 Jahren, die ich mit dem Bus unterwegs bin, noch nicht einmal alle Länder Europas besucht. Das sind ja doch immerhin rund 50 Staaten.
Die Konzentration auf einen Kontinent erlaubt es, seine Entwicklung besser zu verfolgen. Hat sich Europa verändert?
Ich habe den Eindruck, dass die Leute offener geworden sind. Die Menschen erzählen einerseits gerne von sich und ihrem Leben, andererseits interessieren sie sich aber auch dafür, was anderswo geschieht. Das mag erstaunen, schliesslich liest man ja immer, dass sich viele Länder wieder stärker abschotten und neue Mauern errichten. Aber solche Menschen treffe ich eigentlich nur selten an. Ich glaube, es gibt auch gar nicht so viele von ihnen.
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Vanlife erlebt derzeit einen Boom. Wie wirkt sich das auf deinen Reisealltag aus?
Es waren noch nie so viele Wohnmobile auf den Strassen unterwegs wie heute. Auf der einen Seite freut es mich, dass immer mehr Menschen dieses Lebensgefühl erleben können und es ist sicherlich auch positiv, wenn nicht mehr so viel geflogen wird. Aber es verändert auch die Orte und die Art, wie Besucher aufgenommen werden. Als ich im September 2008 die Lofoten besuchte, traf ich kaum andere Reisende. Überall gab es kleine Wege, an denen man wild campieren konnte. Als ich vor zwei Jahren erneut dort war, musste ich feststellen, dass viele dieser Wege mit Ketten abgesperrt waren. Überall gab es Schilder mit Campingverboten. „Die Leute hinterlassen nicht nur überall ihren Müll“, erzählte mir ein Einheimischer. „Nein, sie kacken auch noch alles voll.“
Dein neues Buch heisst „Zeit als Ziel“. Welche Rolle spielt die Zeit auf Reisen?
Für mich ist Zeit die Arbeitsgrundlage. Ich bin ja nicht manisch auf der Suche nach Geschichten, sondern schaue, was auf mich zukommt. Das braucht eben eine Weile. Zudem merke ich, dass ich zunehmend langsam reise und mir mehr Zeit für die Begegnungen mit den Menschen lasse. Denn je mehr Zeit ich mir nehme, desto besser werden die Geschichten.
Was wünschst du dir für Europa in den nächsten 20 Jahren?
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen auf dem eigenen Kontinent reisen und seine Vielfalt erkennen. Denn Europa ist sehr viel bunter, als viele vielleicht glauben.
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Langsamreisen im Bulli: Geschichten aus Europa
Seit 23 Jahren reist Oliver Lück mit seinem VW durch Europa. Dabei sammelte er nicht nur eine halbe Million Kilometer auf dem Tacho, sondern auch jede Menge Geschichten aus dem Alltag der Menschen. Einige hat er in „Zeit als Ziel“ in Form von Text- und Bildhäppchen zusammengetragen. Ein wunderschönes Buch, das die Vielfalt unseres Kontinents zeigt. Perfekt zum selberlesen und verschenken.
Oliver Lück: Zeit als Ziel. Conbook Verlag, Augst 2019. Ca. 25 Euro. Bestellen bei Amazon.
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