Verona: Wie Shakespeare der Stadt den Tourismus schenkte

Auf diesem Balkon soll einst Julia gestanden haben. Tatsächlich wurde er erst vor etwa 80 Jahren angebracht. Fotos: Oliver Zwahlen
Auf diesem Balkon soll einst Julia gestanden haben. Tatsächlich wurde er erst vor etwa 80 Jahren angebracht. Fotos: Oliver Zwahlen

Verona ist die Stadt der Liebenden: Weil hier einst Romeo und Julia den Freitod gewählt haben sollen, mauserte sich die norditalienische Siedlung zu einer Pilgerstätte für Liebende aus aller Welt. Mit skurilen Auswüchsen: Jeder darf Julia an die Wäsche oder ein Liebesbriefchen an die Wand kleben.

Wir kennen sie alle, die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia, die zwei verfeindeten Familien angehören und sich ohne das Wissen ihrer Eltern trauen liessen. Ihr tragisches Schicksal nimmt seinen Lauf, nachdem Romeo in einem Kampf den Cousin von Julia tötet und deswegen verbannt wird und sich gleichzeitig Julias Eltern entschließen, die Tochter mit einem anderen Mann zu verheiraten.

Um der geplanten Hochzeit zu entgehen, nimmt Julia einen Schlaftrunk, der sie in einen todesähnlichen Zustand versetzt. Als Romeo seine Geliebte scheinbar tot daliegen sieht, nimmt er in seiner Verzweiflung ebenfalls einen Schluck. Julia, die in diesem Augenblick aus ihrem Schlaf erwacht, sieht, was geschehen ist. Sie ergreift Romeos Dolch und tötet sich.

Der Blick auf den Balkon

Und genau an diesem Ort, wo sich das wohl bekannteste Liebepaar der Weltgeschichte das Leben nahm, befinde ich mich. Er liegt etwas abseits vom Zentrum von Verona unter einem unscheinbaren Museum, das wir besichtigen müssen, bevor wir anschließend in ein Verließ unter einem historischen Gebäude geführt werden. Der grottenartige Bau besteht aus zwei Räumen. Während im vorderen Zimmer mehrere Grabsteine in den Boden eingelassen sind, befindet sich im zweiten ein offener Steinsarg. Ich kann mir leicht vorzustellen, wie sich das Drama abgespielt hat.

Der richtige Ablauf: Zuerst Julia an die rechte Brust fassen und anschließend einen Liebesbrief an die Wand pappen.
Der richtige Ablauf: Zuerst Julia an die rechte Brust fassen und anschließend einen Liebesbrief an die Wand pappen.

Ortswechsel. Etwa ein Kilometer entfernt liegt die Piazza delle Erbe. Hier, im historischen Zentrum von Verona, lässt sich die Casa di Gulietta besuchen, das angebliche Elternhaus von Julia. Über eine Zufahrt gelange ich in einen Innenhof voller Menschen. Knapp darüber befindet sich ein Balkon, von wo aus Julia – sollte man den zahlreichen Reiseführern Glauben schenken – ihrem Liebsten zuwinkte, Noch immer steht dort oben regelmäßig eine junge Frau, die den Besuchern zuwinkt. Heute scheint ihr die lokale Tourismusbehörde jedoch einen freien Tag gegeben zu haben.

Grabschen erlaubt

In einer Ecke des Innenhofs befindet sich eine Bronzestatue von Julia. Vor ihr hat sich eine Schlange gebildet. Jeder will sich mit der weltbekannten Liebenden ablichten lassen. Die Pose dabei ist allerdings etwas außergewöhnlich: Egal, ob Mann, Frau oder Kind – fast jeder Besucher begrabscht die gute alte Julia.

Dass dieser endlose Strom an sexueller Nötigung nicht unbeschadet an der Statue vorbeigegangen ist, lässt sich leicht erkennen: Julias rechte Brust glänzt deutlich heller als der Rest ihres Körpers. Beim genaueren Hinsehen konnte ich sogar ein fingergroßes Loch an ihrem Busen erkennen. Ich wundere mich zuerst etwas, doch frage mich dann: wann habe ich wohl das nächste Mal die Chance, einer weltberühmten Dame an die Wäsche zu gehen? Also lasse auch ich mich in der klassischen Posse ablichten.

Etwas abgegriffen: Das Berühren der rechten Brust Julias gehört zur festen Ritual der Besucher.
Etwas abgegriffen: Das Berühren der rechten Brust Julias gehört zum festen Ritual der Besucher.

Romantisch veranlagte Touristen haben mehr als nur Julias Brust beschädigt. Unter verliebten Paaren auf Turteltauben-Trip gehört es zum gängigen Ritual, irgendwo am Haus eine Liebesbotschaft anzubringen. Zum Beispiel an der Wand unter dem Balkon in Form von kleinen Zettelchen. Wer kein Post-it dabei hat, schreibt die Liebeserklärung einfach auf ein Papierchen und klebt es mit einem Kaugummi an die Wand.

Auch die Wände sind mit zahlreichen Liebesbotschaften verschmiert. Weil verliebte Besucher bisweilen auch Hausmauern weitab von Julias Casa beschrifteten, hat sich die Stadtverwaltung entschlossen, den mitteilungsbedürftigen Schreiberlingen eine ordentliche Schreibfläche zur Verfügung zu stellen. Nun kann jeder der will, seine Botschaft auf der Wand bei der Zufahrt hinterlassen – und ältere Botschaften überschreiben. Denn freie Stellen gibt es auf dem rund zehn Meter langen Mauerstück längst nicht mehr.

Die große Lüge

Was vielen Besuchern nicht so ganz klar zu sein scheint: die Vermarktung der Geschichte von Romeo und Julia ist ein großer Betrug. Ein öffentlicher Zwist zwischen einer Familie Capulet und einer Sippschaft Montague lässt sich historisch nicht belegen. Das heisst, die Geschichte der beiden Liebenden ist mit größter Wahrscheinlichkeit eine freie Erfindung.

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Eine Touristin bringt mit Nagellack eine Liebesbotschaft an der Wand an.

Allerdings keine von Shakespeare. Dieser hat sich nämlich um 1595 teilweise wortwörtlich von einer rund 30 Jahre älteren Erzählung des Engländers Arthur Brooke inspirieren lassen, der sie wiederum direkt oder über ein paar Zwischenstufen von einer 1530 erschienenen Novelle des italienischen Autors Luigi Da Porto abkupferte. Er war es, der den Liebenden ihre Namen gab und die Handlung in Verona ansiedelte. In einer älteren Überlieferung spielte die Geschichte noch in der Stadt Siena und die Liebenden trugen die eher wenig bühnenwirksamen Namen Mariotto und Ganozza.

So passt es dann auch, dass der Balkon, auf dem Julia einst sehnsüchtig gewartet haben soll, keineswegs aus einer Zeit um den Anfang des 14. Jahrhunderts stammt – also aus der Zeit, in der die Geschichte spielt. Erst in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts war er an das Haus angebracht worden, das zuvor als Stall diente und keineswegs das Haus einer reichen Familie gewesen sein konnte. Die vielen Verliebten stört das jedoch nicht. Sie sind ohnehin viel zu sehr beschäftigt, ihre kleinen Briefchen anzubringen.

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4 Kommentare

  1. …also als wir jetzt in Verona vor diesem Balkon standen waren wir echt entsetzt – wie kann man dermaßen viele Kaugummis an die Wand pappen und das alles so verschandeln…selbst die Arena war so voll mit Müll…das soll ein Weltkulturerbe sein?! Da bleibe ich lieber am Gardasse und genießße die Sonne ;-)

  2. Hallo Oliver, wunderschöne Fotos! Vor allem das Foto der bemalten Wand am Romeo und Julia-Balkon gefällt mir. Schon bald ist wieder Ostern und wir fahren – wie jedes Jahr ;-) – an den Gardasee. Ein Besuch von Verona gehört da immer wieder zum Pflichtprogramm. Die Stadt ist von Peschiera ganz einfach und bequem mit den öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus und Bahn) zu erreichen. PS: Du solltest Dir bei Deinem nächsten Besuch unbedingt eine Opernaufführung in der Arena ansehen, das ist mit Sicherheit ein Erlebnis, auch wenn Du kein großer Opernfan sein solltest, ist zumindest bei mir so ;-) Liebe Grüße und danke für den tollen Artikel! Tammy

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